Migration kann kultureller Fortschritt sein - Dr. Josef Heringer referierte beim SPD Ortsverein

15. April 2015

Tittmoning. "Was wir sind und was wir haben verdanken wir uns nicht selbst, sondern in vielen Fällen fremden Kulturen." Dr. Josef Heringer, langjähriger Dozent und Studienleiter an der Bayerischen Akademie für Landschaftspflege und Naturschutz in Laufen, referierte beim SPD-Ortsverein über "Menschen - und Pflanzen-Migration - die Welt als interkultureller Garten." Hintergrund sind die Flüchtlingsströme nach Europa und Deutschland, getrieben durch Krieg und wirtschaftliche Not. Vorsitzender Dirk Reichenau betonte in seiner Einführung, daß es bei gut 170.000 Einwohnern im Landkreis Traunstein eine Selbstverständlichkeit sein müsse, im Zusammenspiel von staatlichen Stellen, Wohlfahrtsverbänden und den vielen Ehrenamtlichen die derzeit rund 800 Flüchtlinge human unterzubringen und in der Folge für eine vernünftige Integration zu sorgen.

Dr. Heringer erläuterte, daß die Welt in Wellen in Bewegung sei. Neu ist allenfalls die dramatische Zunahme von Bewegungen, die bei manchen Zeitgenossen Unbehagen auslösen, vor allem, wenn sie zunehmend mit Menschen weltweiter Herkunft, anderer Hautfarbe und anderer Religion verbunden sind. Eine gewisse Abhilfe schaffen kann seiner Meinung nur eines: das Wissen, das alle Europäer selbst "Mischlinge" mehrerer Völkerwanderungen sind. Sei es jene am Ende der Antike mit dem Verfall des Römischen Reiches oder die letzte im Zuge der zwanghaften Vertreibungen am Ende des II: Weltkrieges. Des Weiteren könne für Verständnis die Tatsache sorgen, daß die meisten Pflanzen und Nahrungsmittel, die für uns heute selbstverständlich sind, ebenfalls "Migrations-Hintergrund" haben.

Über alle Geschichtsepochen hinweg war Migration ein wesentlicher Teil des kulturellen Fortschritts. Die Lebenshoffnung vieler Menschen und die endzeitliche Heilverheißung vieler Religionen haben mit "Paradies", mit "Garten" zu tun. Deshalb sei es wichtig, so Dr. Heringer, hier genauer hinzuschauen. Der Kern des Kultur-Begriffes komme vom lat. colere für "bebauen, pflanzen, pflegen, verehren". Es sei angesichts von 7 Milliarden Menschen auf der Erde überlebensnotwendig, aus diesen Planeten einen arbeits- und nahrungsproduktiven Garten zu machen und ihn nicht zum Schlachtfeld verkommen zu lassen. Das Kriegenwollen von Ressourcen wie Land, Wasser, Energie usw. drohe nämlich zum Krieg zu werden. Europa habe außerordentlich von anderen Kulturen profitiert: Brotgetreide, Wein, Obst, Bohnen, Lein, Kraut, usw. selbst das Bierbrauen sei "zugewandert" , vielfach aus den Ländern, aus denen heute ein Großteil der Kriegsflüchtlinge komme. Über Bayerns Römerzeit und die Klöstern des Mittelalters wurde vieles aus dem nahöstlich-mittelmeerischen Pflanzenerbe bei uns "heimisch" gemacht. Mit der Entdeckung Amerikas kamen Kartoffel, Tomaten oder Kürbis dazu. Und erst mit der Zuwanderung der Sudetendeutschen nach dem letzten Krieg konnte der Mais in Bayern seinen "Siegeszug" in der heimischen Landwirtschaft antreten. Nach den Worten Dr. Heringers sei beispielsweise der aktuelle Krieg in der Ukraine auch ein Konflikt um die dortige "Schwarzerde".

Im Ergebnis wünschte sich der Referent, daß den Völker, die derzeit von Kriegen und Naturkatastrophen heimgesucht werden, wieder Perspektiven zur Selbstentwicklung eröffnet werden. Gartenbauvereine oder andere Einrichtungen, könnten beispielhafte Selbsthilfeprojekt mit Partnern in der sogenannten Dritten Welt anbahnen. Nur durch die Bekämpfung der Ursachen von Not durch Förderung der Entwicklungs- und Friedensarbeit könnten Flüchtlingsströme abgeschwächt werden. Aber auch vor Ort gäbe es Handlungsbedarf: So sei auch bei uns eine umweltbelastende agrarindustrielle Landbewirtschaftung auf dem Vormarsch, der offensichtliche Klimawandel werde nicht ernst genommen und der großen Mehrheit der Menschen gehe zusehends der Bezug zu den natürlichen Lebensgrundlagen verloren, beklagte Dr. Heringer.

Eingangs gab Kreisrat Dirk Reichenau einen Sachstandsbericht zur aktuellen Flüchtlingssituation im Landkreis Traunstein. Zum 1. März 2015 wurden insgesamt 806 Asylbewerber in den Unterkünften der Regierung von Oberbayern und den dezentralen Unterkünften des Landkreises aufgenommen. Dazu hatte der Landkreis 37 Objekte zur dezentralen Unterbringung angemietet. Nach den Berechnungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie einem Prognoseszenario der Regierung von Oberbayern würde die Zahl der im Landkreis Traunstein unterzubringenden Asylbewerber aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen im Laufe des Jahres auf 1.300 bis 1.600 anwachsen. Die Rhetorik mancher CSU-Politiker, beispielsweise allen Kosovaren "Winterurlaub in Deutschland" und somit von Haus aus Asylmissbrauch zu unterstellen, lasse eine latente Fremdenfeindlichkeit erkennen, sagte Reichenau. Das Engagement der Bürgerschaft sei in manchen Orten bei der Aufnahme von Flüchtlingen enorm, obwohl wärme Räume, Verpflegung, Gesundheitsvorsorge und Sprachkurse nur bedingt traumatische Erlebnisse aus Krieg, Verfolgung und wirtschaftlicher Not vergessen lassen können.

Nach dem lebhaften und lehrreichen Vortrag Dr. Josef Heringers schloss sich eine kurze Diskussion an, die die Anlage von Gärten in öffentlichen Grünanlagen zum Inhalt hatte. Hintergrund war die weltweit zunehmende Bewegung des "Urban Gardening", städtisches Gärtnern also, welches man von Berlin bis München oder auch Nairobi bestaunen könne. Solche Gärten könnten auch ein Aktionsfeld zur Völkerverständigung und gegenseitiger Wertschätzung werden. Beispielsweise hatte die Diözesanversammlung des Bistums München-Freising schon im März 2008 folgenden Beschluß gefasst: "Kirchengrund in Siedlungsnähe möge nach Möglichkeit als temporäres Gartenland für den Gemüseanbau vorzugsweise an Familien mit Kindern, Kindergärten, Erwerbslose, Heimatlose oder Neubürger zur Verfügung gestellt werden."

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